Worum es im Strafrecht aktuell wirklich geht

Kommentar zur Willensfreiheitdebatte

Wer ist schuldig? Kopfzerbrechen bereiten mögliche Konsequenzen der neurobiologischen Forschung für das Strafrecht. An der prinzipiellen Willensfreiheit des Einzelnen, die das Strafrecht unterstellen muss, wie manche meinen, rütteln diese Entwicklungen allerdings nicht - so der Strafverteidiger Stefan Krauth in seinem Kommentar.

Die Hirnforschung ist angetreten, die neurobiologischen Grundlagen abweichenden Verhaltens aufzuzeigen. Es geht dabei nicht nur um die Disziplinierung einzelner Körper und straffällig gewordener Individuen, sondern auch um die optimierte Regulierung der Bevölkerung.

Der Einsatz der „Bio-Politik“

Die Geschichte der sozialen Kontrolle des Körpers zeigt, dass der Körper zu diesem Zweck nicht gemartert werden muss. Er soll, so der französische Historiker Michel Foucault, „geformt, umgeformt und verbessert werden; er soll Fähigkeiten erwerben, eine Reihe von Eigenschaften erlangen, sich als arbeitsfähiger Körper qualifizieren“. Die auf den „Körper-Menschen“ gerichtete Macht wurde ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch eine Macht ergänzt, die nicht individualisierend, „sondern massen­konstituierend“ ist. Diese Form der Macht bezeichnete Foucault als Bio-Politik des menschlichen Körpers. Bei der Bio-Politik geht es nicht um einen individuellen Zugriff auf abweichendes Verhalten, sondern um die systematische Qualifizierung des Lebens. Diese Qualifi­zierung verstand Foucault als „ein unerlässliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus, der ohne die kontrollierende Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungs­phänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre“.

Biologisierung des Strafrechts?

Bei der „sorgfältigen Verwaltung des Körpers“ und der „Planung des Lebens“ nehmen Medizin und Lebenswissenschaften eine besondere Rolle ein. Die (kritische) bio-politische Perspektive tendiert dazu, die Geschichte der Kriminalitätsbekämpfung als stets zunehmende Pathologisierung und Biologisierung abweichenden Verhaltens zu verstehen. Dieser Prozess münde darin, im Verbrecher eine Rasse sui generis zu sehen, die letztlich den biologi­schen Bestand der Gesellschaft gefährde. So liest man etwa in dem Buch Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat, dass das „traditionelle auf der Zurechnung von Schuld und Verantwortung basierende Strafrecht versagte, als die biologische ‚Abnormität’ des Verbrechers zum ‚Normalfall’ geriet“. Dies trifft so nicht zu.

Die neue Neurobiologie

Die Neurowissenschaften verstehen das Hirn als ein für die soziale Umwelt offenes und prägbares System. Mit dem Verweis auf die so genannte Plastizität des Gehirns lassen neurowissenschaftliche Arbeiten die offensicht­lichen Schwächen kruder sozio-biologischer Ansätze hinter sich. Die moderne Hirnforschung hat sich von den wohlfeilen Vorstellungen verabschiedet, nach denen die Biologie unvermittelt soziales Handeln steuert.

Der Normalfall des Strafrechts ist „Schuldfähigkeit“

Zwar rühmt sich die Hirnforschung immer wieder gerne, die Grundlagen des Strafrechts zu erschüttern. Diese Einschätzung geht aber an der Realität des Straf­rechts und den modernen Formen sozialer Kontrolle vorbei. Der „falsche Zustand des Geists“ ist und bleibt im Strafrecht der vorrangige Anknüpfungspunkt der staat­lichen Reaktion - nicht der schuldige Körper. Dieses Prin­zip behauptet sich seit gut 200 Jahren gegenüber medizinischen, psychoanalytischen und soziologischen Angriffen. Dies liegt weniger an wissenschaftlichen Defiziten der genannten Disziplinen als an der Funktion des Rechts, einen stabilen Erwartungshorizont für die Gesell­schaft bereitzustellen. Das Strafrecht operiert mit einer ausdifferenzierten Zustandsbeschreibung des schuldigen Geists. Es erweist sich dabei als immun gegenüber dem Angriff, unsere Entscheidungen seien durch das limbische System bereits festgelegt, bevor uns Entscheidungen bewusst würden. Die biologische Abnormität des Verbrechers ist die Ausnahme. Schuldiger Geist und schuldiger Körper existieren neben­einander.

Der schuldige Körper

Im Windschatten der ebenso irrelevanten wie aufgeregt geführten Diskussion um die Willensfreiheit entsteht jedoch ein neues Interventionsfeld der Neurowissen­schaften. Zahlreiche neurowissenschaftliche Publikationen befassen sich weniger mit dem strafrechtlichen Normalfall, als mit zwei Erscheinungsformen von Kriminalität, die wegen ihrer Unverständlichkeit und mangelnden Rationalität für Irritationen sorgen: der impulsiven, irrationalen Gewalt einerseits, der kalten, zweckgerichteten Gewalt des „Psychopathen“ andererseits. Letztere wird mit dem Spiegel des Botenstoffs Serotonin im Gehirn erklärt, während erstere „neurobiologisch noch nicht genügend verstanden ist“, aber ebenso in einem naturwissenschaftlichen Beschreibungssystem gefasst werden soll. Das Problem mit „kalt, berechnenden“ und mit „planlos impulsiv“ agierenden Gewalttätern sei, so die HirnforscherInnen, dass bei ihnen das Prinzip des Strafrechts versage. Denn diese Personen seien, neurobiologisch gesehen, für Strafandrohung unempfänglich, weil be­stimm­te Hirnareale, namentlich der Hippocampus, gestört seien. Die Forscher berufen sich unter anderem auf neurobiologische Experimente, die zeigen, dass die Zerstörung bestimmter Neuronen die konditionelle Erzeugung von Angst zerstört. Heißt: Die erfahrungsbedingte Abschreckung über Angst funktioniert bei Menschen, die „kalt, berechnend“ oder „impulsiv, planlos“ handeln, nicht mehr. Im Kern geht es also um Fälle strafrechtlicher Nicht­regierbarkeit. Die Hirnforschung arbeitet daran, die Täter­kreise zu identifizieren, die mangels eines rationalen Kalküls von der Regierbarkeit durch Abschreckung ausgeschlossen sind. Das Wirkungsfeld der Hirnforschung deckt sich damit mit dem zeitgemäßen kriminalpoliti­schen Bedürfnis, schuldunabhängige Maßnahmen der Sicherung und Besserung wie etwa die Sicherungsverwahrung verstärkt anzuwenden.

Die Polizei der Körper

Die neurowissenschaftliche Forschung erschließt darü­ber hinaus ein Feld, in dem die Politik mit den Körpern neu beginnen kann. Gerade der Zusammenhang zwischen sozialer Umwelt und der Entwicklung des Gehirns, den die NeurowissenschaftlerInnen betonen, ist es, der möglicherweise neue bio-politische Wirkungsfelder eröffnet. Im Anschluss an den marxistischen Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis können wir davon ausgehen, dass sich die warenproduzierende Gesellschaft durch private Rechtsgeschäfte der Einzelnen reproduziert. „Gefahr“ bedeutet dann das drohende Scheitern von Privatautonomie. Im Prinzip der Privatautonomie verknüpfen sich damit zwei Logiken: das bio-politische Wissen um die Faktoren, die der Selbstregierbarkeit entgegenstehen, mit der Logik der „erklärungsfeindlichen“ strafrechtlichen Selbstkontrolle über Freiheit. Die Schnittstelle gibt der neurowissenschaftlichen Forschung ihr Ziel vor. Neuere neurobiologische Arbeiten geben an, erklären zu können, warum bestimmte Menschen durch das traditionelle Strafrecht nicht wirksam zu regieren seien. Die gezielte Manipulation der Umwelt könne deshalb helfen, die neurobiologischen Grundlagen geistiger Tätigkeit zu optimieren und die Neigung zu Straftätigkeit zu redu­zieren. Der enge Begriff der Schuld wird dabei erweitert. Schuld ist nicht mehr allein, wer seinem Willen eine falsche Bestimmung gibt und es somit versäumt hat, einen brauchbaren Charakter herauszuarbeiten. Nun wird schuldig sein, wer es unterlässt, die körperlichen Grundlagen des regierbaren Willens zu optimieren und somit gesellschaftliche Reproduktion gefährdet.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
199
vom Mai 2010
Seite 10 - 11

Dr. iur. Stefan Krauth ist Strafverteidiger und Autor der Buches „Die Hirnforschung und der gefährliche Mensch“.

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