„Essen Sie nicht irgendwas, denn Sie sind nicht irgendwer“
Ernährungswissenschaften und Nutrigenomics
Unter dem Einfluss von Genomik und Postgenomik diskutiert die Ernährungsforschung, ob eine an die individuelle genetische Konstitution angepasste Ernährung Gesundheit verbessern oder Krankheiten verhindern kann. Functional Foods und nutrigenetische Tests werden schon vermarktet.
Wie und was wir essen (sollen) ist nicht nur Thema in Lifestyle-Magazinen. Es wird auch von der Ernährungsforschung und in den Gesundheitswissenschaften immer wieder neu bewertet. Mit der Genomforschung hat sich das Wissen über Ernährung verändert, was sich innerhalb wie außerhalb der Forschung niederschlägt: Nahrungsmittel werden nach ihrer molekularbiologischen Funktion, wie zum Beispiel die Kapazität, freie Sauerstoffradikale im Körper zu binden, neu klassifiziert. Gleichzeitig richtet sich der biomedizinische Blick auf individuelle biologische „Variation“ bei den KonsumentInnen selbst. Zunehmend wird gefragt, ob bestimmte Ernährungsweisen für alle gleich gesund sind. Kommerzielle Anbieter nutrigenetischer Tests werben mit Slogans wie „Essen Sie nicht irgendwas, denn Sie sind nicht irgendwer!“ Tests, auf deren Grundlage personalisierte Ernährungsempfehlungen gegeben werden sollen, sind zwar bereits auf dem Markt, werden aber von ErnährungsmedizinerInnen als noch zu wenig aussagekräftig angesehen. Die Vision von der „personalisierten Ernährungsempfehlung“ schließt an diejenige der „individualisierten Medizin“ an. Beide sind eng mit den Technologien der Genomik und Postgenomik verknüpft. An der Weiterentwicklung und Verbesserung dieser Technologien und differentieller Konzepte von Ernährung wird intensiv geforscht. Hatte bereits die Genomik neben der Gesamtheit der Gene auch die Expressionen des Genoms untersucht, bringen die „Omics-Technologien“ (unter anderem Proteomik, Transkriptomik, Metabolomik) weitere Komplexität mit sich: Die Postgenomik nimmt die Gesamtheit der Proteine (des Proteoms) und ihrer Wechselwirkungen sowie darüber hinaus die Gesamtheit aller Stoffwechselprodukte - das Metabolom - in den Blick. Das Metabolom eines Organismus umfasst alle im Zuge der Verstoffwechslung von Nahrung zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegenden biochemischen Verbindungen. Der Einsatz (post)genomischer Technologien, wie Hochdurchsatz-Verfahren und DNA- bzw. Protein-Microarray-Chips, hat wesentlich zum Entstehen neuer Forschungsgebiete wie Ernährungs-Epigenetik 1 und Nutrigenomik beigetragen. In die molekulargenetische Erforschung der Ernährung wird breit investiert - auch weil die Nutrigenomik als marktrelevant gilt. Zu den Anwendungsvisionen zählen die gezielte Herstellung so genannter Functional Foods 2, nutrigenetische Tests und die Manipulation landwirtschaftlicher Erzeugnisse an der Grenze zwischen „Farming“ und „Pharming“, zwischen „grüner“ und „roter“ Gentechnologie.3
Postgenomische Ernährungsforschung
In Nutrigenomik-Netzwerken organisierte WissenschaftlerInnen beschreiben ihr Arbeitsgebiet vor allem über zwei Charakteristika: die Anwendung der Omics-Technologien und die „Individualisierung der Ernährung“.4 Ansatzpunkt sind genetische und andere Bio-Marker , mit denen individuelle Unterschiede im Stoffwechsel erfasst werden können. Viele Zusammenhangsannahmen und Nachweisverfahren der Nutrigenomik sind noch im Stadium der „Proof of Principle“-Studien. In dieser Phase werden grundlegende Mechanismen etabliert, Biomarker validiert und Messverfahren geprüft. Haben sie diesen Schritt durchlaufen, stehen oft mehrjährige Phasen der Hypothesenprüfung in Tierexperimenten, mit Probanden und schließlich in größeren epidemiologischen Studien an. An der Schnittstelle zur epidemiologischen Gesundheitsforschung haben sich zum Beispiel die „Public Health Genomics“ herausgebildet, auch Teile der Nutrigenetik/Nutrigenomik sind hier zu verorten. Anders als die Anfangsvisionen des Humangenomprojekts und der genetischen Epidemiologie, in deren populärwissenschaftlicher Version meist von einzelnen „Genen für etwas“ die Rede war, gehen die aktuellen Vorstellungen von nicht gen-deterministischen Wechselwirkungen aus. Bei ihnen spielen die molekularen „Umwelten“ und die Frage nach präventiven Umwelt- und Lebensstil-Adjustierungen eine zentrale Rolle. Ernährungsepidemiologische Analysen (Bevölkerungsstudien zum Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit) beziehen zunehmend molekulare Marker mit ein. Ein häufig angewendetes Studiendesign zur Untersuchung so genannter „Gen-Lebensstil-Interaktionen“ sind randomisierte Interventionsstudien. Bei diesen werden Ernährungsumstellungen wissenschaftlich begleitet und Daten zu Lebensstil, Genetik und allgemeiner Gesundheit erhoben. Da für solche Studien zu multiplen „Gen-Umwelt-Interaktionen“ große Fallzahlen erforderlich sind, werden sie häufig als multizentrische Studien durchgeführt, das heißt die Daten mehrerer Studien werden gemeinsam („gepoolt“) ausgewertet. Hierfür werden internationale Konsortien gebildet, die Teile ihrer Daten für spezifische Analysen zusammen führen. Anhand von Langzeitbeobachtungen in Kohortenstudien werden auf Populationsebene Einflüsse von Ernährung auf die Gesundheit berechnet, wie zum Beispiel von Obst- und Gemüsekonsum auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs. Ausgehend von diesen Daten - einzeln oder gepoolt mit ähnlichen Studien - lässt sich der Anteil von Ernährungsfaktoren am Krankheitsrisiko schätzen. Wie in der Molekularbiologie findet auch in der Ernährungsforschung ein zunehmender Teil der Forschung auf in-silico-Plattformen statt, also in informationstechnischen Infrastrukturen (zum Beispiel web-basierte Datenbanken oder Daten-Plattformen zu Modellorganismen). Die unterschiedlichen Forschungssysteme generieren dabei jeweils für die anderen Systeme Hypothesen, welche dann zwischen den in-vivo-, in-vitro- und in-silico-Plattformen wandern. Die Hypothesen werden entlang der unterschiedlichen Ebenen abgeglichen und getestet - von Microarrays zu Bevölkerungsregistern. So finden Bio-Marker, die sich im Labor für einen Wirkpfad relevant erwiesen haben, als potentielle Risikofaktoren Eingang in epidemiologische Studien. Umgekehrt werden sozial- oder umweltepidemiologische Befunde, die oft als wenig plausibel betrachtet wurden, wenn kein biologischer Mechanismus nachgewiesen war, im Zuge der Omics-Technologien experimentell verifizierbar.
Neuklassifikationen und nutrigenetische Tests
Erste Erfahrungen mit angewandter Nutrigenomik finden weniger in der Klinik als auf dem Markt statt: Genetische Tests, in denen der Stoffwechsel des Individuums über genetische Marker klassifiziert wird, werden kommerziell angeboten, erprobt und weiter erforscht. Bisher hat sich nur begrenzte Praxisrelevanz dieser Marker für VerbraucherInnen und Medizin gezeigt. Molekularbiologische Neubewertungen von Lebensmitteln werden als Lifestyle-Trends gezielt in Vermarktungsstrategien eingebunden: Nahrungsmittel mit hohen ORAC-Werten (Oxygen Radical Absorbance Capacity, ein Maß für die Fähigkeit, freie Sauerstoff-Radikale zu absorbieren) werden zum Beispiel als Anti-Aging-Lebensmittel vermarktet. Sie könnten - so das Versprechen - Körperzeit verlangsamen und damit Lebenszeit verlängern. Analog zu „Pharmaceuticals“ stellt die Industrie zunehmend „Nutraceuticals“ her. Was noch Ernährung oder schon Medikament ist, scheint zu verschwimmen. Trockenfrüchte oder Pflanzenextrakte werden über ihre vorbeugende Wirkung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vermarktet. Ein präventives Selbstmanagement mit Ernährungsanpassung wird als frühzeitige Weichenstellung propagiert - lange bevor sich etwaige Krankheitssymptome bemerkbar machen. Erste nutrigenetische Tests sind auch in Deutschland kommerziell erhältlich - und werden auf Gesundheitsmessen und im Internet beworben. Für solche Tests werden genetische Polymorphismen getestet, die im Zusammenhang mit relevanten Stoffwechselprozessen stehen. Die genauen Marker werden in Abhängigkeit von Angaben in einem Lebensstil-Fragebogen ausgewählt. Beispielsweise werden DNA-Abschnitte analysiert, die für Enzyme kodieren, die beim Abbau von Fetten oder Kohlehydraten eine Rolle spielen. Auf Grundlage des genetischen Musters erfolgt eine Zuordnung zu Stoffwechseltypen. Ein kommerzieller Testanbieter aus Berlin versucht potentielle KlientInnen mit diesem Service zu werben: „Das Genmuster wird aus mindestens 10-35 Genen bestimmt. Jedes Gen beeinflusst einen bestimmten Teil des Stoffwechsels. Das Zusammenspiel der Gene macht Ihren Stoffwechsel so einzigartig. Auf dieser Grundlage erhalten Sie wirklich Gewissheit, welcher Stoffwechseltyp Sie sind.“ Dabei wird die genetische Typisierung meist als Ergänzung oder als ein Mittel zur Präzisierung bereits vorhandener Klassifikationen in Stoffwechseltypen beschrieben. Im Informationsmaterial zu den Tests werden einige der genetischen Marker mit anschaulichen populärwissenschaftlichen Bezeichnungen, wie zum Beispiel „Stress-Gen“, versehen. Eine bestimmte Ausprägung dieses Markers führe dazu, dass der Stoffwechsel bei hohen Belastungen verlangsamt werde: Bei Vorliegen des „Stress-Gens“ greife „der Körper [..] nicht auf seine Fettreserven zurück, verbrennt ausschließlich Zucker (Heißhunger auf Süßigkeiten) oder reagiert mit Antriebsarmut (viel Kaffee und Zigaretten)“, so die Broschüre des Anbieters. Fragen des Lebensstils werden als durch die Gene mit vermittelt dargestellt. Die genetische Disposition sei entscheidend für die individuelle Lebensgestaltung und für Präventionsentscheidungen. Während diese Form genetischer Tests bisweilen auch in das Servicespektrum der Alternativmedizin Eingang gefunden hat, raten SchulmedizinerInnen und EpidemiologInnen bisher ab. Sie bewerten die kommerziell erhältlichen Tests als verfrüht und nicht belastbar. Die Zahl der getesteten Gene sei zu gering und die Vorhersagekapazität gegenwärtiger Tests zu niedrig - erst müsse weitere Forschung erfolgen.5 Mit dieser Feststellung werden zugleich mehr Mittel für epidemiologische Studien und Biobanken gefordert, um zunächst die Wechselwirkung von Genen und Ernährung bei der Herausbildung chronischer Krankheiten zu erforschen. Darauf aufbauend sollen dann „wissenschaftlich fundierte“ Tests mit hoher prädiktiver Kapazität entwickelt werden. Beiden Positionen - für oder gegen nutrigenetische Tests zum jetzigen Zeitpunkt - ist gemeinsam, dass sie die Tests nicht gen-deterministisch, sondern in einem weiteren Kontext individualisierter Ernährungstypisierungen verstehen und sie dennoch für die Ernährungsmedizin und potentiell für die Ernährungsberatung bedeutsam halten. Über die zukünftige Relevanz für Prävention und die Nachfrage durch KonsumentInnen wird die Notwendigkeit weiterer Forschung mit begründet.
Das „postgenomische“ Individuum
Waren Gesundheitswissenschaft und Epidemiologie im Zuge der New Public Health programmatisch im Gegensatz zur Individualmedizin an der „Bevölkerungsgesundheit“ orientiert, setzt die Nutrigenomik dezidiert auf ein „postgenomisches“ Individuum. Dieses wird technisch über eine Reihe von Typisierungen und Wahrscheinlichkeiten als ein statistisches Profil hergestellt. Eine konkrete Person wird dabei durch viele statistische Substrata „repräsentiert“. „Individuell“ meint hier eine Kaskade an Subgruppenklassifikationen, die über ein Raster aus Variablen wie Alter, Geschlecht oder eben genetische Marker definiert sind. Biostatistik auf Populationsebene überlagert sich mit Individualmedizin - beide rasten ineinander ein und werden zu einer robusten Praxis der Entscheidungsfindung. Ernährung wird somit durch die immer genaueren statistischen Profile „personalisiert“ und im Zuge einer individuellen Ausrichtung von Ernährungspraxen gemäß der eigenen genetischen Disposition „subjektiviert“. Wenn auch die Nutrigenomik - wie die Genomforschung insgesamt - nicht die Bedeutung und Durchschlagkraft anfänglicher Erwartungen erreicht hat, verändern differentielle Risikoabschätzungen Praxen und Governance der Nahrungsmittel- und Gesundheitspolitik. Unter dem Label der Diversifizierung und Individualisierung kommen über molekulare Technologien neue Standardisierungen der Wissensbestände und Methoden zum Tragen - mit ihnen gehen spezifische Regimes der Intervention in Ernährung und Körper einher.
- 1Vgl. Landecker, Hannah (2010): Nahrung als Exposition. Epigenetik der Ernährung und die Molekularisierung der Umwelt, in: S. Bauer, C. Bischof, S.G. Haufe, L. Scholze-Irrlitz, S. Beck (Hg.): Essen in Europa. Bielefeld 2010, S. 135-162.
- 2Vgl. Chadwick, Ruth u.a. (2003): Functional Foods, Berlin: Springer.
- 3Vgl. Spök, Armin (2006): Von „Farming“ zu „Pharming“. Die nächste Generation von genetisch veränderten Pflanzen. Soziale Technik 2, S. 6-8.
- 4Vgl. Website NuGO, www.nugo.org/everyone/28383/24023.
- 5Vgl. Joost, Hans-Georg (2005): Genotyp-basierte Ernährungsempfehlungen. Noch im experimentellen Stadium. Deutsches Ärzteblatt 102 (39), S. A2608-A2610.
Susanne Bauer forscht am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zu Praxen der Wissensproduktion in Epidemiologie, Biomedizin und Environmental Health. Von 2008-09 arbeitete sie am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin im Projekt „Imagined Europeans“.