Einverständnis zum Unbekannten
Broad Consent in der Praxis
Die NAKO Gesundheitsstudie wird erstmals genetische Daten auswerten. Aufgrund des Einwilligungskonzepts haben Proband*innen keine Kontrolle darüber, welche Art von Studien mit den sensiblen Daten durchgeführt werden.

Teilnehmende der NAKO Gesundheitsstudie haben kein Mitspracherecht, welche Forschungsfragen mit ihren Daten bearbeitet werden. Foto: gemeinfrei auf pexels.com (leeloothefirst)
Vor zehn Jahren beschäftigten sich eine Kampagne des Gen-ethischen Netzwerkes (GeN) sowie ein Schwerpunkt des GID mit der „Nationalen Kohorte“. Das Projekt wurde später in die weniger militärisch klingende „NAKO Gesundheitsstudie“ umbenannt. Ziel ist es, datenintensive biomedizinische Forschung zu ermöglichen, indem rund 200.000 Menschen mindestens 20 bis 30 Jahre lang regelmäßig untersucht werden. Die aufbereiteten Datensätze dienen aktuellen und zukünftigen Forschungsprojekten als wertvolle Ressource. Das GeN setzte das Projekt schon damals in den Kontext seiner grundsätzlichen Kritik an der Entwicklung einer sog. personalisierten Medizin, auch Präzisionsmedizin oder Überwachungsmedizin genannt.1 Diese durch Big Data ermöglichte Forschungsrichtung verspricht, den Menschen nicht wie herkömmlich anhand von Krankheitssymptomen zu diagnostizieren und zu therapieren. Stattdessen soll die Messung von Biomarkern ermöglichen, individuelle Krankheitsrisiken zu berechnen, die dann möglichst präventiv behandelt werden können. Um diese Biomarker identifizieren zu können, braucht es jedoch die Daten von sehr vielen Menschen und in einer so standardisierten Form, wie sie eben nur in Großprojekten wie der NAKO erhoben werden können. Das Sammeln, Analysieren und Aufbewahren der inzwischen ca. 27 Millionen Bioproben der NAKO bedeutet auch große öffentliche Investitionen. Ob die Versprechen der biomedizinischen Forschung an die Gesellschaft auch eingehalten werden können, ist nach wie vor offen – nach rund 20 Jahren sind die Gewinne der Präzisionsmedizin – gemessen an der in Aussicht gestellten medizinische Revolution – relativ gering. Andererseits braucht Wissenschaft Zeit – von der Grundlagenforschung bis zu einer zugelassenen Therapie kann es Jahrzehnte dauern.
Informiert uninformiert?
Das GeN hatte bereits 2015 in einem Flyer mit dem Titel „Daten ohne Schutz“ nicht nur das Forschungsmodell der NAKO kritisiert, sondern auch den Umgang mit den sensiblen Daten der Proband*innen sowie das Einwilligungsmodell des Großprojektes. Auf eine aktuelle Anfrage des GeN zum Stand des Projektes und zum Einwilligungskonzept schreibt die NAKO: „Die Einwilligung der Teilnehmenden ist eine Informierte Einwilligung“. Auch eine „breite Einwilligung“ könne, so die NAKO, „informiert gegeben werden“. Sie begründet dies mit der „sehr ausführlichen“ mündlichen und schriftlichen Aufklärung der Studienteilnehmenden darüber, dass „die erhobenen Daten für die Gesundheitsforschung verwendet werden“. Wenn die Teilnehmenden dann einwilligen, handele es sich um eine Informierte Einwilligung. Eine recht eigenwillige Interpretation angesichts der wissenschaftlich verbreiteten Definitionen der beiden Einwilligungsmodelle. Eine Informierte Einwilligung würde bedeuten, dass eine Aufklärung wesentliche Informationen über die geplante Forschung enthält und diese verstanden werden. Wie kann dies gegeben sein, wenn die Proband*innendaten für zukünftige, noch unbestimmte Forschungsprojekte mit möglicherweise noch zu diesem Zeitpunkt nicht existenten Methoden gespeichert werden? „In einem ausführlichen persönlichen Einwilligungsgespräch wird die Einwilligungserklärung mit der Teilnehmerin oder dem Teilnehmer durchgegangen“, so die Nako auf die Frage wie der Einwilligungsprozess aussieht. In dem dazu verlinkten Dokument ist der Ablauf der Untersuchungen detailliert für die Proband*innen der NAKO beschrieben. Auch wird erklärt, welche Bioproben genommen und wo diese gelagert werden. Über den Zweck erfährt man wenig mehr, als dass die Daten und Proben der „gesundheitsbezogenen Forschung“ dienen und dabei helfen sollen, die „Entstehung von Zivilisationserkrankungen“ zu verstehen und „neue Strategien zur Vermeidung, Früherkennung und Behandlung dieser Erkrankungen [zu] entwickeln“.2 Zu diesen Erkrankungen zählen unter anderem Allergien, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebserkrankungen und Demenz.
Bisher spielte genetische Forschung in der NAKO keine Rolle, dies ändert sich jedoch mit der Drittuntersuchung. Dort sollen auch Blutproben genommen werden und durch „genomweite genetische Methoden“ analysiert werden. Einen Eindruck über die Erkenntnisse, die mithilfe der genetischen Daten gewonnen werden sollen, gibt ein Podcast-Interview mit der Epidemiologin Prof. Annette Peters, auf den die NAKO in der Anfrage des GeN verweist.3 Sie beschreibt, wie Menschen unterschiedlich auf Luftschadstoffe reagieren – und dies unter anderem an den Genen liegen könne. „Wenn wir das besser verstehen, können wir auch alle Menschen besser schützen“, so Peters. Wie dieser Schutz jedoch genau aussehen soll – etwa durch die Gabe von präventiven Medikamenten, häufigere Kontrolluntersuchungen oder durch Verhaltensempfehlungen für die genetisch besonders anfälligen Menschen – wird nicht erklärt. Am Ende bleibt die Frage offen, ob es wirklich genetische Forschung braucht, um Luftschadstoffe strenger zu regulieren. Liefert die Forschung stattdessen möglicherweise Argumente für eine Individualisierung der Folgen? Schließlich könnte gefordert werden, dass sich genetisch anfälligere Menschen schützen müssen, statt dass es einen strengeren Umweltschutz für alle braucht.
Migrationshintergrund im Fokus
Rund 18 Prozent der Teilnehmenden besitzen laut NAKO einen Migrationshintergrund, definiert als Menschen mit mindestens einem Elternteil mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Genetische Forschung an gesellschaftlichen Minderheiten birgt Herausforderungen und erfordert besondere Sensibilität. Eine Internetrecherche zeigt, dass „Ethnie“ von der NAKO und beteiligten Forscher*innen verwendet wird – doch was genau damit gemeint ist und wie diese Angabe erhoben wird, lässt die NAKO offen. Auf die Nachfrage des GeN, wie Migrationshintergrund anknüpfbar an die internationale Forschungscommunity gemacht wird, wo vor allem mit den Begriffen „Race“ und Ethnizität geforscht wird und Migrationshintergrund kaum eine Rolle spielt, antwortet die NAKO an der Frage vorbei: „Diskriminierungssensible Sprache ist ein Thema, das wir in der NAKO sehr ernst nehmen“.
Seit dem Beginn der NAKO wurde innerhalb der Epidemiologie über Forschung mit migrationsbezogenen Variablen und gesellschaftlichen Minderheiten weiter diskutiert. Ein Papier von Forschenden am Robert-Koch-Institut von 2023 empfiehlt z. B. den Begriff Migrationshintergrund nicht zu verwenden, da er einen zu heterogenen Personenkreis mit vielfältigen Biografien bezeichne.4 Gleichzeitig bilde er aber gesundheitsrelevante Variablen wie „Rassismus in Form von Diskriminierungserfahrungen oder strukturelle[n] Ausschlüssen“ nicht differenziert genug ab. Die Autor*innen warnen davor, dass Subgruppenbildung für statistische Auswertungen Differenzen erst erzeugt und damit bestehenden gesellschaftliche Ungleichheiten verfestigen kann.
Das Risiko, bestehende Ungleichheiten zu verstärken, ist besonders hoch, wenn es um genetische Forschung geht, denn diese kann dazu führen, dass z. B. durch Diskriminierung erzeugte Unterschiede als vermeintlich „natürlich“ erklärt werden. In einem GID-Interview von 2022 beschrieb die US-amerikanische Genetikerin Dr. Krystal Tsosie die Probleme genetischer Diabetesforschung an Indigenen Communities.5 Diese würde eine sehr einfache Erklärung liefern: „Wir sind genetisch für die Krankheit X veranlagt und deshalb ist es unsere Schuld.“ Andere Faktoren, wie sozioökonomischer Status oder die Folgen von kolonialer Gewalt, würden in dieser genetisch fokussierten Forschung vernachlässigt, so Tsosie. Diese Vereinfachung wiederum hätte Konsequenzen für politische Entscheidungen, bei denen keine Priorität auf Sozialleistungen zur Prävention in den Communities gesetzt wird. Auch für genetische Forschung an europäischen Rom*nja wurden ähnliche problematische Dynamiken gezeigt. Besonders durch den aktuellen Rechtsruck in Deutschland sollte die Möglichkeit solcher Nebeneffekte von genetischer Forschung mitgedacht werden. Wohin die Reise gehen könnte zeigt z. B. die kleine Anfrage der AfD 2018, in der die Abgeordneten Daten über behinderte Menschen in Deutschland erfragten und einen kausalen Zusammenhang zwischen Behinderung, Inzucht und Migration suggerierten.
Gefahr der Biologisierung
Die soziale Ungleichheit in Deutschland wächst. Laut Sozialbericht 2024 haben Menschen mit niedrigem Einkommen eine vier bis acht Jahre geringere Lebenserwartung und leiden eher an chronischen Erkrankungen. Es ist zu hoffen, dass die NAKO dazu beiträgt, aufzuklären, welche sozialen Faktoren Menschen unterschiedlich krank machen, um evidenzbasierte politische Entscheidungen zu ermöglichen. Doch auf der Webseite der NAKO steht die Frage „Welche Rolle spielen unsere Gene?“ neuerdings an erster Stelle der zentralen Fragen, die die Studie beantworten will.6 Bis Anfang 2024 hieß es dort noch: „Ist es die Umwelt, das soziale Umfeld oder die Situation am Arbeitsplatz? Ist es die Ernährung? Sind es die Gene? Eine Mischung von allem?“7. Durch den aktuellen Fokus in der Forschungsförderung auf Präzisions- und Genommedizin könnte die NAKO in Zukunft also vor allem dazu dienen, statistische Zusammenhänge zwischen Genvarianten und Gesundheitsunterschieden zu suchen. Die Teilnehmenden der NAKO haben dabei kein Mitspracherecht. Über die Datenverwendung entscheidet das „Use & Access Committee“ der NAKO und der Vorstand anhand des Ethikkodexes der NAKO. Um dem Anspruch der NAKO zu entsprechen, nachdem die gewonnenen Daten der Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung dienen sollen, muss das Gremium die stigmatisierenden Effekte, die eine Verknüpfung von Migrationshintergrund, Gesundheit und Genetik haben kann, ausreichend antizipieren und diesen Effekten entgegenwirken.
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GID Schwerpunkt (2015): Gesundheitsdaten auf Vorrat? GID-Ausgabe 229, online: www.gen-ethisches-netzwerk.de/publikationen/gid/2….
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NAKO (10.06.2024) Teilnahmeinformation für die Drittuntersuchung der NAKO Gesundheitsstudie 2024-2028. Online: www.kurzlinks.de/gid272-bf.
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Der Code des Lebens (o.D.): Die Nako Gesundheitsstudie: Wer wird krank und warum? GHGA Podcast, Folge 18, online: www.ghga.de/de/codedeslebens.
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Kajikhina, K./Koschollek, C./ Sarma, N. et al. (2023): Empfehlungen zur Erhebung und Analyse migrationsbezogener Determinanten in der Public-Health-Forschung. In: Journal of Health Monitoring 8, 1, S.55-77, www.doi.org/10.25646/11093.
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Bartram, I. (2022): „Genetik birgt ein besonderes Risiko“, Interview mit Krystal Tsosie. In: GID 262, S.16-18, online: www.gen-ethisches-netzwerk.de/node/4453.
- 6
NAKO Gesundheitsstudie: www.nako.de/studie
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Webarchiv von www.nako.de vom 22.04.2024, online: www.web.archive.org oder www.kurzlinks.de/gid272-bg. [Letzter Zugriff Onlinequellen: 27.01.25]
Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.