Embryonal oder adult?
Die Unterscheidung von embryonalen und adulten Stammzellen ist zum Dreh- und Angelpunkt der ethischen Diskussion über Stammzellforschung in Deutschland geworden. Dabei entbehrt diese Differenzierung einer klaren wissenschaftlichen Grundlage und ist vor allem ein Produkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die politische Beschränkung der Forschungspraxis. Vor diesem Hintergrund wird in Wissenschaft, Recht und Ethik um das Wesen und die Bedeutung einer irreführenden Benennung gestritten.
Die Kräfte hinter der Selbst-Regenerationsfähigkeit von Geweben sind ein altes Thema biologischer Forschung. In diesem Zusammenhang wurde schon Ende des 19ten Jahrhunderts auch das Wort Stammzelle gebraucht (e.g. Weismann, 1896). Stammzelle wird hier nicht als theorietragender Begriff eingeführt, sondern der Begriff bleibt peripher, ist der Entwicklungsbiologie der Pflanzen entlehnt. Auch die Unterscheidung zwischen embryonalen und somatischen Zellen (Körperzellen) reicht in diese Phase entwicklungsbiologischer Forschung zurück und markiert unterschiedliche Entwicklungspotentiale von Zellen. In der Medizin wurden Stammzellen seit den 1970er Jahren in der Knochenmarktransplantation zur Behandlung bestimmter Leukämieformen eingesetzt – zur Regeneration des Blutsystems. Weder für die Biologie noch für die Medizin waren Stammzellen also 1999, als die öffentliche Diskussion um eine Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen in der Forschung einsetzte, neu. Sie waren alte Bekannte, intensiv und seit langem in Pflanzen und Tieren beforscht und als Therapeutika verwendet.
Was ist eine embryonale Stammzelle?
Diese Einführung betont den Aufmerksamkeit heischenden Charakter vieler neuerer Darstellungen der Stammzellforschung und deutet auch an, warum für WissenschaftlerInnen der Medienrummel der vergangenen Jahre unerwartet gewesen sein mag. In der Tat war es stets nur der Umgang mit menschlichen embryonalen Stammzellen, dem so herausragende öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, und das aus Gründen, die nur im Zusammenhang ganz bestimmter Vorstellungen davon, was eine embryonale Zelle ist, verständlich werden. Embryonale Stammzellen stammen von Embryonen. Genauer sind sie jene Zellen, die sich bei gelungener Einnis-tung des Embryos in die Gebärmutter einer Frau und bei fortgesetzter Entwicklung zum Fötus und später Nachkommen entwickeln könnte. Um embryonale Stammzellen aus dem Zellverband zu lösen, wird dieser zerstört – zumeist so, dass möglichst alle Embryonalzellen für die Kultivierung gewonnen werden und eine Weiterentwicklung des Embryos nicht mehr möglich ist. Wenn nur die Embryoblast-Zellen ‘embryonale’ Stammzellen sind, dann sind alle anderen ‘adulte’ Stammzellen. Adulte Stammzellen heißen so ohne guten Grund, obgleich der Ausdruck in Parallelbildung zur Bedeutung von embryonal suggeriert, dass sie aus adulten Organismen entnommen wären, eben wie die Blutstammzellen aus dem Knochenmark. Adult funktioniert als Gegenbegriff zu embryonal in dem Sinne, dass alle Stammzellen, die einem späteren Entwicklungsstadium als der Blastozyste entnommen sind, adult heißen – also Stammzellen in oder aus abortierten Embryonen und Feten, von Kindern, aus der Nabelschnur et cetera. Macht diese Unterscheidung Sinn? Meines Erachtens ist sie in mehrfacher Weise kontra-intuitiv, und sie ist suggestiv, insofern sie nahelegt, dass der maßgebliche Unterschied zwischen problematischer und unproblematischer Stammzellforschung davon abhängt, ob sich die Zellen vor ihrer Nutzung für einige Zeit im Körper einer Frau befunden haben oder nicht. Entwicklungsbiologen gehen davon aus, dass die embryonalen Zellen sich auf eine Reise durch eine ganze Kaskade von Stadien der Entwicklungsfähigkeit begeben. Bestimmte Potentiale scheinen unter natürlichen Bedingungen auf bestimmte Entwicklungsphasen beschränkt, so zum Beispiel die in Deutschland und anderen Ländern so wichtige Totipotenz (um das 8-Zell-Stadium) oder die Phase der drei Keimblätter mit ihren divergierenden Entwicklungslinien. Diese Kaskade von Stufen des schrittweisen Verlusts der Flexibilität der Zellen hinsichtlich der Art ihrer Tochterzellen geht einher mit ihrer Spezialisierung. Diese erst gewährleistet, dass die Komplexität der Organismusroutinen von höheren Säugetieren bewältigt werden kann (um in den für diesen Zusammenhang so üblichen Metaphern der Ökonomie zu bleiben – deren Adäquatheit bezweifelt werden kann).
Unklare Kriterien
‚Embryonal’ oder ‚adult’ unterscheidet Arten von Stammzellforschung anhand äußerst unklarer Kriterien. Die Begriffe identifizieren weder eindeutig die ‘Entnahmequelle’, da das Embryonalstadium bis zur Vollendung der Organ-entwicklung reicht (circa 10 Wochen) und adult (deutsch: erwachsen) von vornherein nur metaphorisch gemeint sein kann. Die Begriffe bezeichnen auch nicht eindeutig unterscheidbare Differenzierungniveaus von Zellen in irgendeinem bekannten und feststehenden Sinne, sondern wenn überhaupt etwas, dann die Extreme auf einer Skala von Entwicklungspotentialen, zwischen denen viele Stufen existieren. Biologisch ist die embryonal-adult-Unterscheidung also sinnlos und zu grob, um etwas erfassen zu können, was relevant ist für Biologie oder Medizin. Wichtig und auch für die Wissenschaft nahezu mit existentieller Bedeutung aufgeladen, wird diese Unterscheidung dann, wenn es politische und kulturelle Entscheide gibt, welche die Zerstörung von Embryonen unter Strafe stellen. In Ländern, für die das gilt, ist sogenannte embryonale Stammzellforschung nicht möglich. Sie ist es jedoch sehr wohl in anderen. Das Problem, auf das die Unterscheidung embryonal versus adult eine Antwort ist, entstand aus der Verschiedenheit der Nationen in der moralischen Bewertung der frühen Form menschlichen Lebens und den sozio-technischen Umgebungsbedingungen moderner Forschung. Wo menschliches Leben, und insbesondere solches, das sich nicht selbst zu schützen vermag, unter besonderem staatlichen Schutz steht, und ungeborenes Leben einen Platz – und in manchen Ländern den prominentesten (einzigen) Rang – in dieser Kategorie einnimmt, da erscheint die mögliche Serienproduktion und -vernichtung menschlicher Embryonen für den biomedizinischen Einsatz als ultimativer Frevel. Die Geschichte und kulturelle Bedeutung solcher moralischer Einschätzungen und Gesetze ist in verschiedenen Ländern extrem unterschiedlich, doch das ist hier nicht das Thema. Wichtig ist, dass mit der Entwicklung der Stammzellforschung als einem eigenen Wissenschaftszweig in einer globalen Wissenschaftswelt diese moralische Bewertung zu einem Konflikt führt, der unter anderem durch geschickte Bestimmungen des Wissenschaftsgegenstandes tendenziell gelöst werden soll. Im Folgenden will ich einige der Spannungen, innerhalb derer sich die Stammzellforschung als Forschungsgebiet in den letzten sieben Jahren herausgebildet hat sowie gesellschaftspolitische Gegebenheiten benennen, die dieses wissenschaftspolitische Ereignis beeinflussten.
Stammzellforschung als eigenes Gebiet
Was heute Stammzellforschung heißt, ist ein neuartiges Konglomerat aus einer ganzen Reihe verschiedener Forschungszweige in der Entwicklungs- und Molekularbiologie und in der medizinischen Therapie- und Transplantationsforschung. Die durchaus widerstreitenden Erkenntnismethoden, Ziele und Wissensformen der beteiligten Disziplinen geben der Stammzellforschung eine besondere Flexibilität bezüglich ihrer Wahrheitskriterien und legitimen Forschungsobjekte. Sie profitiert dabei davon, dass sie ihre Legitimation aus dem therapeutischen Horizont und Potential beziehen kann, ihre ‚Wissenschaftlichkeit’ jedoch aus der molekularbiologischen Verankerung ihrer Erkenntnisse – diese Verbindung ist fruchtbar für ihren Status als gesellschaftlich wichtiges Projekt, führt aber zu Spannungen, wenn es um den Zeitpunkt der Anwendung der Forschung am Menschen geht, da hierfür Biologie und Medizin sehr unterschiedliche Messlatten anlegen. Der Kenntnisstand, den viele BiologInnen fordern, ehe sie sich auf Menschenversuche einlassen wollen, scheint weitaus höher als jener der Medizin, die sich weniger am Verstehen als an erwünschten physiologischen Effekten orientiert. Der Zusammenschluss dieser Disziplinen ermöglicht eine besondere Form öffentlicher Anerkennung, die sich zum Beispiel in gerichteten Forschungsförderprogrammen niederschlug, die, so kann man aus heutiger Sicht sagen, allen integrierten Forschungsanliegen auf direkte oder indirekte Weise zugute kam. Diese Vereinigung nahm auch der oft gesetzlich verankerten Ablehnung vieler westlicher Länder gegen verbrauchende Nutzung menschlicher Embryonen die Spitze, indem sie diese implizit auf das ganze Feld – und damit unangemessen weit - ausdehnt und so, metaphorisch gesprochen durch den Filter der Therapiedimension hindurch, die radikale Ablehnung verdünnt und längerfristig neutralisiert. Die für Gesellschaft und Forschungsgemeinschaft akute Notwendigkeit, mit klaren Begriffen und Definitionen Stammzellen verschiedener Art zu unterscheiden, ist ohne diese gesellschaftlich einschränkenden Rahmenbedingungen nicht erklärbar. Aus Sicht der Wissenschaft selbst, so eine solche Sicht existiert, könnte sie als nicht nur unnötig sondern tendenziell sogar kontraproduktiv betrachtet werden. Im Gegenteil kann die Unbestimmtheit eines Konzepts oder Begriffs Raum lassen für die Kommunikation zwischen verschiedenen Wissenschaftsansätzen und -teams, die Zusammenarbeit offen halten und Spielräume lassen für Neues. Ein Begriff wie Gen oder Stammzelle kann gerade als unscharfer disziplinär besonders furchtbar sein. Warum also beteiligten sich in Deutschland - und Deutschland war eines der wenigen Länder, in denen diese Frage zeitweise sehr prominent wurde - so viele WissenschaftlerInnen daran, eine klare begriffliche und konzeptionelle Definition von bestimmten Arten von Stammzellen zu finden? Ich denke, es ging ihnen darum, an der Bestimmung des Erlaubten und des Verbotenen mitzuwirken und ihr eigenes Forschungsinteresse als legitim und erlaubt auszuweisen. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass und wie dies vonstatten ging – eben nicht im Begriffsnetz embryonal/adult, sondern entlang des im Gesetzestext ebenfalls verwendeten Begriffs totipotent, der zugleich spezifischer und heikler war.
Toti-, multi-, pluripotent?
In Deutschland war 1990 Gesetz geworden, dass hierzulande keine Forschung betrieben werden darf, welche die Vernichtung menschlicher Embryonen außerhalb des Mutterleibes auch nur billigend in Kauf nimmt. Die Modellierung des Wissenschaftskomplexes Stammzellforschung auf nationaler Ebene sah sich darum mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich darüber klar zu werden, was die Konsequenzen dieses Verbots für die Möglichkeiten der Forschung sind. Eine Unterscheidung im Wesen der Sache, die verbotene von erlaubten Zellen trennt, schien wohl die verlässlichste Lösung für dieses Problem. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung fand nicht anhand der beiden Begriffe adult und embryonal statt, sondern entlang des Wissens um die Potentiale verschiedener Arten von Zellen. Stammzellen haben die Eigenschaft, dass sie sich in Tochterzellen mit den gleichen Eigenschaften wie sie selbst teilen können, aber auch in Zellen einer fortgeschritteneren Entwicklungsstufe. Solche Zellen, deren Produkte sich über mehrere Durchgangsstufen im Prinzip zu allen Gewebearten des jeweiligen Organismus entwickeln können, werden oft totipotent genannt, solche, die sich nur noch in bestimmte Gewebszellen zum Beispiel des mesodermalen Typs ausdifferenzieren können, pluripotent, und jene, die in ihrer Entwicklungsbreite auf ihre Reproduktion und Zellen eines bestimmten Organsystems wie Nerven, Pankreas, Haut oder Blut beschränkt sind, heißen multipotent. Leider ist diese Ordnung, wie Ordnungen im Allgemeinen, nicht ohne Ausnahme durchzuhalten. Bis 2003 galten Keimzellen mit ihrem einfachen Chromosomensatz als die Ausnahme von der Regel. Bei Lebewesen mit geschlechtlicher Vermehrung haben die Keimzellen einen einfachen Chromosomensatz. Das Produkt aus der Verschmelzung der beiden Chromosomensätze in den Keimzellen der Eltern ist das besondere Genom des Nachwuchses. Aber ob und wenn ja wie Zellen mit doppeltem Chromosomensatz gezielt zur Mitose (bringt Zellen mit einfachem, haploidem Chromosomensatz hervor, Eizelle und Spermium) veranlasst werden können, war bis zur erfolgreichen Gewinnung von Mäuse-Eizellen aus embryonalen Mäusestammzellen (Hübner 2003) unbekannt. Diese soeben vorgestellte Beschreibung eines Sachverhaltes deutet schon an, dass es zwei unterschiedliche Sichtweisen auf das Problem der Bestimmung von Teilungseigenschaften von Stammzellen gibt. Ich nenne sie die Sichtweisen der Körperformation und des Tissue Engineering (Hauskeller 2005). Im ersten Falle heißt Totipotenz die Fähigkeit der Zellen, im Falle ihres Herauslösens aus dem Zellverband vereinzelt unter geeigneten Bedingungen einen ganzen Organismus bilden zu können. Dieses Verständnis liegt dem Embryonenschutzgesetz zugrunde, wenn es Präimplantationsdiagnostik und Embryo Splitting gleichermaßen verbietet als künstliche Vermehrungen des ersten Embryos mit dem Potential zur Zwillingsherstellung. Die Tissue-Engineering-Sicht hingegen ist eine, die nicht den Organismus als Ziel ins Auge fasst, sondern die Bedeutung von totipotent gezielt auf den Umstand beschränkt, dass im Prinzip alle einzelnen Zellarten des Organismus, unverbunden, aus einer Zelle erzeugt werden können. In Deutschland wurden im Zusammenhang mit der sich formierenden Stammzellforschung die Begriffe toti- und pluripotent neu verhandelt. Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Zerstörung von Embryonen in vitro und auch jegliche Forschung an totipotenten menschlichen Zellen im Sinne der Organismusperspektive. Die Gewinnung von embryonalen menschlichen Stammzelllinien war damit juridisch ausgeschlossen, nicht jedoch die Möglichkeit, mit importierten Stammzellen aus dem Ausland zu forschen, sofern diese eindeutig nicht totipotent waren. Die Diskussion über diese Frage wurde 1999 ausgetragen und Einvernehmen zwischen Organismus- und Tissue-Engineering-Perspektive erzielt, da keine Sicht die Elemente in embryonalen Stammzellkulturen als totipotent ansah.
Progressive Konfusionen der Ordnung
1) Und sie kann sich doch in alle Zelltypen entwickeln, auch Keimzellen! Die Kreation der Mäuse-Eizellen im Jahre 2003 erzeugte ein neuerliches Ungleichgewicht. Im Sinne der Annahme, dass alle Arten vor Körperzellen aus Stammzellen generiert werden können, wird mit diesem Ergebnis die Vollständigkeit möglich. Es könnte technisch möglich sein, auch menschliche Keimzellen, vor allem Eizellen, aus Stammzellen im Labor herzustellen. Für viele erscheint dies mittelfris-tig als die ideale Alternative, um das Problem der Eizellbeschaffung für Experimente zum ’therapeutischen’ Klonieren zu lösen. Gegenwärtig wird in Ländern, die solches Klonieren betreiben (möchten) über Spenden von Frauen (bezahlt oder unbezahlt, Inland oder Ausland) und über die vorläufige Verwendung entkernter Tier-Eizellen, insbesondere Hasen-Eizellen, nachgedacht.
2) Epigenetisches Reprogrammieren Molekularbiologisch wird die Veränderung, die mit der Entwicklung vom frühen Embryo mit seinen totipotenten Zellen zu den drei Keimblättern und den fortgeschrittenen Differenzierungsstufen hin zu adulten somatischen Zellen stattfindet, als eine mehrstufige Restrukturierung des Genoms in den Zellen beschrieben. Diese Prozesse galten bis 1999 als unumkehrbar. Experimente (auch hier vorerst vor allem an Mäusen und anderen Modelltieren) mit der Einbringung von Blutstammzellen in das Gehirn oder von Nervengeweben in das Blutsystem haben zuerst einmal gezeigt, dass diese falschen Zellen die richtigen Tochterzellen erzeugen und sich also ihrer Umgebung anpassen. Das Phänomen wird metaphorisch als ‘epigenetische Reprogrammierung’ bezeichnet und ist bislang wenig verstanden. Wichtig ist hier, dass es im Prinzip zwei Möglichkeiten gibt, wie dieser Prozess der Anpassung stattfinden kann: direkt als Umgebungsanpassung des Genoms an die veränderten Kommunikationsbedingungen im zellulären Umfeld oder als De- und Re-differenzierung der Zelle, indem sie zuerst eine frühere Stufe wieder erklimmt (zum Beispiel pluripotent wird) und sich dann neu ausdifferenziert. Beides gefährdet die Ordnung von adult und embryonal, beziehungsweise toti-, pluri- und multipotent. Kann denn ausgeschlossen werden, dass sich nicht vereinzelt totipotente Zellen im Organismus befinden oder phasenweise bilden? Was soll aus diesen Befunden für die Regelungen des Umgangs mit lebendigen menschlichen Organismen und Zellen folgen? Die gezielte oder absichtslos ausgelöste stufenweise Zurückverwandlung einer somatischen oder Vorläuferzelle in eine pluri- oder totipotente Zelle muss ausgeschlossen werden können, sonst bräche das Gerüst, auf dem das Embryonenschutzgesetz beruht, zusammen, und alle Zellen müssten generell oder vor bestimmten technischen Eingriffen und Prozessen geschützt werden. Die dramatischeren Varianten genereller Schutzrechte wurden sofort abgelehnt – es besteht kein Interesse an einem Lebensschutz für Hautfetzchen oder Partikel aus Knochenmark in medizinischem Gerät et cetera. Was diskutiert wurde war die Beweislast. Wer muss eigentlich was beweisen? Mit anderen Worten: Wie bestimmen wir in diesem Fall das Verhältnis der drei Elemente Gebot zur moralischen Vorsicht in existentiellen Fällen, ontologischem Zweifel und wissenschaftlicher Gewissheit? Henning Beier argumentiert 2002 bezüglich der Totipotenz von Zellen in Embryonen und Organismen: ”Man kann eine Zelle dann totipotent nennen, wenn es experimentell bewiesen ist, dass sich aus ihr im Laufe einer Schwangerschaft ein lebensfähiges Wesen entwickelt”.(47) Ohne experimentellen Beweis sei davon auszugehen, dass eine Zelle nicht totipotent ist, und der gesunde Menschenverstand stimmt zu, führt man sich vor Augen, welche Konsequenzen sonst für den Schutz von menschlichen Körperpartikeln aus dem ESchG gezogen werden müssten.
Das Verhältnis von Wissenschaft, Moral und Recht
Wenn nun das Wort totipotent nicht im Gesetz stünde? Es scheint mir plausibel anzunehmen, dass manch konzeptionelle Verrenkungen wie die oben beschriebenen nicht so stattgefunden hätten. Doch das Geschehene ist aufschluss-reich in mehr als einer Hinsicht. Es mag so aussehen, als wäre die Wissenschaft vom Text eines Gesetzesparagraphen in unterschiedliche Ecken getrieben worden, aus denen sie mit geschickten Interpretationen entkommt. Dabei ist in Erinnerung zu halten, dass Wissenschaft einen nicht unmaßgeblichen Einfluss im Prozess der Entwicklung und Beschlussfassung zum Beispiel des ESchG hatte. ‘Totipotent’ ist eine Hinterlassenschaft dieser Aktivität, die disparate Stimmen aus der Wissenschaft wie aus vielen anderen Segmenten der Gesellschaft hörbar werden ließ. Die Definition des Embryos verdankt sich komplizierten Verhandlungen über absoluten Lebensschutz am Lebensanfang und dem Ziel, In-vitro-Befruchtung mit Hormonbehandlung möglich zu machen. Es ist die Spannung zwischen den unterschiedlichen Verhältnissen von Recht, Moral und Wissenschaft zu Definition und Klarheit, die ein Phänomen wie das obige erst hervorbringt. Vereinfacht ausgedrückt ließe sich sagen, dass Wissenschaft Eindeutigkeit weniger mit Bezug auf die exakte Anwendung eines bestimmten Wortes wie Gen, Embryo oder totipotent benötigt, sondern bezüglich der Messbarkeit von Verfahren, um ihre Reproduzierbarkeit zu gewährleisten. Moral ist im strengen Sinne situationsbezogen und ihre Verwissenschaftlichung prinzipiell problematisch, da die Situationen von Menschen in ihrer Komplexität eben nicht gleich sind, höchstens ähnlich. Der Versuch, bestimmte Handlungsweisen als verboten auszuzeichnen, der sich unter anderem in rechtlichen Regelungen niederschlagen kann, ist darum tendenziell gefährdet, relevante Aspekte des Einzelfalles zu ignorieren. Recht als gesatzte Formulierung von Verboten, die anwendbar sein sollen, muss darauf bedacht sein, möglichst exakt das Anvisierte und nur dieses zu regeln. Die Epigenetik ist darum nicht nur eine Umkehrung von Lehrmeinungen in der Entwicklungsbiologie, sondern hat die etablierte Ordnung durcheinander gebracht, weil biologische Lehrmeinungen in die Gesetzesbildung in Form von Expertisen Eingang gefunden haben. Gegenwärtig besteht jedoch weder von Seiten der Gesetzgebung noch anderer politischer Kräfte oder der Wissenschaft Interesse daran, das ESchG aufzuheben und zu modernisieren. Meine Spekulation ist, dass diejenigen, die für eine wesentliche Lockerung eintreten, die Zeit und den Forschungsstand für nicht angemessen halten, um Zustimmung für eine wesentliche Änderung zu erreichen, während eine marginale Änderung großen Aufwandes bedürfte und doch keine substantiellen Fortschritte brächte. Die Gegenseite hingegen ist mit dem bestehenden ESchG zufrieden. Erst Durchbrüche in der Therapie am Menschen mit embryonalen menschlichen Stammzellen sind geeignet, diese Balance so zu verschieben, um die Änderungen zu erreichen, auf welche die Deutsche Forschungsgemeinschaft schrittweise hinarbeitet (DFG 2001).
Unerwartete Potentiale der Stammzellforschung
Üblicherweise gilt Stammzellforschung als auf eine Klasse von Objekten bezogene Wissenschaft mit zumindest auch medizinisch-therapeutischen Zielsetzungen, eingebunden in unterschiedliche gesellschaftliche Umgebungsbedingungen hinsichtlich Ökonomie, Recht, Wahrheitsproduktion und Ethik. Parallel zu den nicht unbedingt neuen Problemen, die eine Stammzellmedizin der marktgerechten Serienproduktion aus embryonalen Stammzelllinien aufwirft, wurden in den letzten Jahren durch diese Forschungsprojekte auch zentrale Dogmen der Entwicklungsbiologie in Frage gestellt. Die anthropologischen Implikationen dieser Forschungsbefunde und ihre Bedeutung sind bislang kaum in Betracht gezogen worden. Als Beispiel hierfür kann das Wissen um die Umkehrbarkeit entwicklungsbiologischer Differenzierungsvorgänge und die Epigenetik gelten. Bis etwa 1999 galt, dass Zelldifferenzierung in eine Richtung und unumkehrbar verläuft. Die Embryonalentwicklung war vorgestellt als eine Stufenfolge von Differenzierungen, in der der Erwerb einer stabilen Identität mit dem Verlust erkauft wird, potentiell vieles werden zu können. Die Modellvorstellungen der biologischen und der psychologischen Ontogenese waren parallel: Die Ausdifferenzierung bestimmter Eigenschaften, einhergehend mit Einschränkungen des Horizonts der Möglichkeiten, entspricht in der Zellbiologie der Entwicklung durch die Stadien der Totipotentz zur Pluripotenz zur Multipotenz zur somatischen Zelle, welche die Fähigkeit eingebüßt hat, sich in weiter ausdifferenzierte Tochter-Zellen zu differenzieren. Das Potential einer neuen Denkbewegung, die diese neuen Metaphern herausarbeitet und sie in die gesellschaftliche Diskussion um die Biotechnologien einträgt, verspricht den Ethikdiskurs zu erweitern und viele der gängigen Argumente gegen genetische Manipulation et cetera anders und besser zu unterstützen.
Quellen:
- Beier H. 2002: Totipotenz und Pluripotenz. Von der klassischen Embryologie zu neuen Therapiestrategien, in: Oduncu F., Schroth R., Vossenkuhl W. (Hrsg.), Stammzellforschung und therapeutisches Klonen, Vandenhoek und Ruprecht, Göttingen, 2002, 36-54.
- DFG 2001: Empfehlungen der DFG zur Forschung mit menschlichen Stammzellen, 3. Mai.
- Hauskeller 2005: Science in Touch, Biology and Philosophy, Vol 20, No. 4 2005, 315-335.
- Hübner K., et al. 2003: Derivation of Oocytes from Mouse Embryonic Stem Cells, Science 300, 1251-1256.
Dr. Christine Hauskeller ist Philosophin, Soziologin und Senior Research Fellow in EGENIS, dem ESRC Centre for Genomics in Society, einem sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum, das sich mit dem Verhältnis von Life Sciences und Gesellschaft befasst. Bevor sie die Stelle in Exeter, England, annahm, hatte sie in Deutschland in Projekten zur Biomedizin gearbeitet. Sie ist Autorin des Ethikteils im soeben erschienenen Stammzellbericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und leitet gegenwärtig unter anderem ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt, das am Beispiel der Stammzellforschung das Wechselspiel der Beeinflussung von Wissenschaftsentwicklung und gesellschaftspolitischen Bedingungen im Vergleich untersucht.
Für mehr Informationen: www.hauskeller.de; Kontaktadresse: c.hauskeller@exeter.ac.uk