Voodoo-Zauber und Wissenschaft

Der Neuro-Boom und Medien-Hype in Übersicht

Seit mehr als einem Jahrzehnt machen die Neurowissenschaften Furore. Während in den Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften ein „Neuro-Boom“ zu beobachten ist, wecken Medienberichte unrealistische Erwartungen an Hirnforschung und Neurowissenschaften. Was ist dran an den Forschungen zu Hirn, Geist und Bewusstsein?

Im vergangenen Jahr sorgte ein Artikel mit dem Titel „Voodoo Correlations in Social Neuroscience“ bei den sonst so erfolgsverwöhnten Neurowissenschaften für Aufregung.1 Sie sahen sich plötzlich mit dem Vorwurf konfrontiert, einige ihrer zentralen Erkenntnisse basierten auf methodisch fragwürdigen statistischen Analysen. Die Autoren hatten sich neurowissenschaftliche Publikationen vorgeknöpft und „mysteriös hohe Korrelationen“ zwischen Emotionen beziehungsweise sozialem Handeln und der Gehirnaktivität genauer angeschaut. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die angeblich eindeutigen Zusammenhänge weitaus höher waren, als es die Messgenauigkeit der zugrundeliegenden Verfahren überhaupt zugelassen hätte. Sind also die Ergebnisse der Neurowissenschaften ausschließlich „fauler Zauber“, bunte Bilder vom Gehirn ohne wissenschaftlich fundierten Gehalt? Tatsächlich hat die Hirnforschung in den letzten Jahrzehnten einige beeindruckende Fortschritte vorzuweisen. Angestoßen durch Innovationen in der Medizintechnik, insbesondere die Entwicklung neuer beziehungsweise verbesserter Verfahren der nicht-invasiven Bildgebung, konnten die Neurowissenschaften in den letzten Jahren neuronale Prozesse sehr viel genauer darstellen und analysieren. Mit Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) können Abläufe im Gehirn präziser beschrieben werden, da geistige Aktivitäten sowohl räumlich als auch zeitlich sehr präzise erfasst werden können (siehe Kasten auf Seite 18). Dies ermöglichte es beispielsweise, die Verarbeitung von visueller Aufmerksamkeit genau zu untersuchen; heute weiß man, dass die neuronale Aktivität beim Verarbeiten von visuellen Eindrücken nicht nur von dem abhängt, was das Auge an Daten an die Sehzentrum liefert, sondern auch davon, ob diesen Daten im Gehirn Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die technikgestützten Einblicke in die Hirnaktivität haben zudem neue Therapieansätze von Krankheiten wie Tinnitus, Phantomschmerzen oder Demenz angeregt. Warum dann also die Aufregung um die „Voodoo-Korrelationen“, wenn doch die wissenschaftliche Disziplin handfeste Erfolge vorzuweisen hat?

Medialer Neuro-Hype

Das hängt vor allem mit der massenmedialen Präsenz der Neurowissenschaften sowie dem dort zu beobachtenden dominanten und hegemonialen Auftreten zusammen. Die Hirnforschung verstand es schon früh, das im Labor produzierte Wissen einer breiten Öffentlichkeit - anderen wissenschaftlichen Disziplinen ebenso wie der Medienöffentlichkeit - zugänglich zu machen. Dabei wurde laut­stark das umfassende und revolutionäre Potenzial der Forschung betont. Dieses werde die Vorstellung von Natur, Gesellschaft und dem Menschen grundlegend verändern. Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Wolf Singer, sprach gar von einem „neuen Menschenbild“, das die neurobiologische Forschung verlange. Die hochtrabenden Ansprüche der Neurowissenschaftler provozierten heftigen Widerspruch und hitzige Debatten über den freien Willen in den Feuilletons. Sie hatten aber auch - und das ist bislang wenig wahrgenommen worden - eine unglaubliche Anziehungskraft.

Neuro-Boom in der Wissenschaft...

In den vergangenen Jahren haben sich diverse Bindestrich-Wissenschaften formiert, um am „Neuro-Boom“ zu partizipieren: Neuro-Ökonomie, Neuro-Pädagogik, Neuro-Theologie, Neuro-Ästhetik, Neuro-Philosophie und so weiter. Zwar sind die meisten dieser „neuen Disziplinen“ nennenswerte Erkenntnisse bisher schuldig geblieben - die Versuche, beispielsweise politische Entscheidungsprozesse mittels fMRT zu untersuchen, liefern allenfalls bunte Bilder, mit denen man einen Artikel illustrieren kann.2 Die Absicht aber ist eindeutig: Mit naturwissenschaftlichen Methoden soll abschließend geklärt werden, was in den jeweiligen Anwendungsgebieten lange Jahre umstritten war. Neurowissenschaft tritt also als übergeordnete Instanz und „neutrale“ Schlichterin interner Konflikte auf den Plan. Der „Neuro-Boom“ in den Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften kommt einigen Wissenschaftlern in diesen Disziplinen wie eine feindliche Übernahme vor. Plötzlich scheinen die über Jahrzehnte entwickelten, fachspezifischen Methoden und Kompetenzen weniger wert zu sein als ein Hirnscan. Die „Voodoo-Korrelationen“ kommen den Kritikern der Neurowissenschaften da gerade recht, um deren Dominanz in Frage zu stellen und sich der Neurobiologisierung zu entziehen. Unterschlagen wird dabei, dass die entsprechenden Bindestrichwissenschaften nicht einfach „Übernahmeziele“ und „Opfer“ des neurobiologischen Erkenntnisfortschritts sind, sondern Forscher der jeweiligen Disziplinen den „Neuro“-Bindestrich-Trend selbst betreiben und damit die Idee der Neuro- als neuer Leitwissenschaft befeuern.

... und Neuro-Pop in der Hirnforschung

Selbstverständlich hat die Hirnforschung auch selbst einiges zu ihrer Popularität beigetragen. Teilweise werden Forschungsfragen gezielt so gewählt, dass eine massenmediale Vermarktung zu erwarten ist. Beispielhaft sei die aktuelle Debatte um „Neuro-Enhancement“ beziehungsweise „Gehirndoping“ genannt. Mit diesen Begriffen wird die Möglichkeit bezeichnet, durch Einnahme von bestimmten Substanzen die kognitive Leistungsfähigkeit und das psychische Befinden bei gesunden Menschen gezielt zu steigern und sich somit im Berufs- und Privatleben Vorteile und Erleichterungen zu verschaffen. Die Hirnforschung verspricht mit diesem und ähnlichen Themen Lösungen für die vermeintlichen Probleme des Alltags in der neoliberalen Gesellschaft.3 Die Vision: Ganz legal eine Pille einzunehmen und sich ohne nennenswerte Nebenwirkungen zufriedener zu fühlen und leistungsfähiger zu sein, eine Lösung also, mit der wir die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse besser ertragen können - statt sie zu ändern. Mit solchen Ankündigungen und Versprechen jedenfalls sichert sich die Hirnforschung die Aufmerksamkeit der Medien. Für die auf Superlative fixierte Diskursivierung der Wissenschaft in Politik und Medien sind die Auslassungen bezeichnend: Kaum erwähnt wird in den Berichten, dass es solche Substanzen in absehbarer Zeit nicht geben wird und es sich hier weitgehend um hypothetische Überlegungen handelt.

Hirnforschung nicht ohne Ideologiekritik

Was aber heißt das für die Analyse der Neurowissenschaften und die kritische Auseinandersetzung mit diesem Feld? Hirnforschung ist weder eine Königswissenschaft, die alles erklären kann, noch bloßer „Voodoo-Zauber“. Sie hat in Bezug auf den Erkenntnisfortschritt und die Wissenschaftstransformation zweifellos Erfolge vorzuweisen, die für andere Disziplinen als Orientierungspunkt dienen. Gleichzeitig sind viele Hirnforscher stark medienfixiert und verbreiten überzogene oder haltlose Thesen, die allenfalls zur Provokation dienen. Interpretieren die Neurowissenschaften - wie im Fall des Neuro-Enhancement - ihre Ergebnisse in einer Weise, die dem neoliberalen Gesellschaftsumbau zuträglich ist oder ihn gar forciert, ist es dringend geboten, diese Entwicklung transparent zu machen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Implikationen zu reflektieren. Wenn Hirnforschung mehr sein soll als „Voodoo“, ist eine solche Gesellschafts- und Ideologiekritik notwendig, um Aspekte wie die zunehmende Biologisierung und Medikalisierung der Gesellschaft zu problematisieren.

  • 1Edward Vul et al.: Puzzlingly high correlations in fMRI studies of emotion, personality, and social cognition (formerly known as 'Voodoo correlations in social neuroscience’), in: Perspectives on Psychological Science 4(3), 2009, S. 274-290.
  • 2Diese zeigt sich eindrucksvoll an dem Artikel Iacoboni, Marco et al.: This is your brain on politics, in: New York Times. 11. November 2009. S. 14; www.nytimes.com/2007/11/11/opinion/11freedman.html.
  • 3Ausführlicher sind diese Überlegungen in zwei Aufsätzen ausgeführt: Linda Heinemann und T. Heinemann: ‘Optimise your brain!’ - Popular science and its social implications, in: Biosocieties 5(2), 2010; T. Heinemann: ›Neuro-Enhancement‹ - Gesellschaftlicher Fortschritt oder neue Dimension der Medikalisierung?, in: K. Liebsch und U. Manz (Hg.), Leben mit den Lebenswissenschaften: Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt?, Bielefeld 2010.

Neuro-Ökonomie

„Do people with high testosterone levels make decisions the same way as people with lower testosterone?“ - Wer solche Fragen beantworten kann, eignet sich zum Neuro-Ökonomen.
Dieser Tage ist ein Buch mit folgendem Titel erschienen: „Neuroeconomics and the Firm“.(1) Das Buch soll zeigen, dass die neurowissenschaftliche Forschung schon heute viele gute Tipps für das Management einer Firma parat hält. Zumindest den Herausgeberinnen ist gelungen, Business und Neuro zu vereinen: Die eine arbeitet am Center for Neuroeconomics Studies in Claremont, die andere ist Professorin für Strategie und Organisation an der Technischen Universität München und die Dritte ist Wirtschaftswissenschaftlerin an einer amerikanischen Universität. Bei der Organisation eines Unternehmens geht es immer auch um wertvolle Ressourcen; zu diesen zählen, betriebswirtschaftlich betrachtet, die MitarbeiterInnen, das „Human Capital“. Die Frage lautet, wie Betriebsklima und Leistungsbereitschaft neurobiologisch zu verbessern sind. Ein Hauptproblem ist - und das weiß der kundige TV-Zuschauer schon aus der Serie „Stromberg“: das Zusammenleben von Männern und Frauen am Arbeitsplatz!!! Uuuh! Die entscheidenden Fragen sind: „Do men change their behavior when a pretty woman enters the office? Do women change their behavior when a handsome man enters the office? Do men and women affect each other within the firm to the detriment or the benefit of the firm?“ Der Begriff Neuro-Ökonomie umfasst aber noch weit mehr. Generell geht es darum, wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen mit den Methoden der Hirnforschung zu untersuchen. Es geht um die Biologie des „decision-making“, um jede Art bewussten und unbewussten Verhaltens, insoweit es Einfluss auf die Organisation einer Firma hat, aber auch um ethische Entscheidungen. Stichwort: unternehmerisches Risiko. Lässt sich die unterschiedliche Risikobereitschaft von Managern und Mitarbeiterinnen per Hirnscan und mit den modernen Methoden der Hormonanalyse begründen? Auch der Verbraucher gerät ins Visier. Beim Neuro-Marketing wird die Wirkung von Marketingkampag­nen mit fMRT untersucht, um zu überprüfen, welche Emotionen hervorgerufen werden. Im Zuge der sogenannten Finanzkrise wurde mit großem Aufwand versucht zu zeigen, dass Marktakteure in Krisenzeiten nicht mehr rational, sondern vor allem emotional handeln. Diese Erkenntnis wird in einigen Bereichen der Ökonomie als Durchbruch gefeiert, was insofern erstaunlich ist, als diese Erkenntnis spätestens seit den 1970er Jahren wiederholt und von verschiedenen Wissenschaftlern dargestellt wurde.(2) Dennoch, ein Mann wie der Wirtschafts-Nobelpreisträger Vernon Smith muss es ja wissen: Die Ergründung der neuronalen und hormonellen Kräfte in Betrieben öffnet den Weg in eine neue Zukunft.
(Alexander von Schwerin unter Beteiligung von Torsten Heinemann)
Fußnoten: (1) Angela A. Stanton, Mellani Day, Isabell M. Welpe: Neuroeconomics And The Firm, Northampton 2010. (2) Beispielhaft Kahneman, Daniel und Amos Tversky: Prospect theory: An analysis of decisions under risk, in: Econometrica 47, 2002, S. 263-292.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
199
vom Mai 2010
Seite 5 - 7

Torsten Heinemann ist Diplom-Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsschwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit den Neurowissenschaften und deren Medienpräsenz. heinemann@soz.uni-frankfurt.de

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