Stammzellen: Was können wir wollen

In der öffentlichen Debatte um die Forschung an embryonalen Stammzellen steht die Hoffnung, Krankheiten heilen zu können, im Konflikt mit der dazu scheinbar notwendigen "Vernutzung" menschlicher Embryonen. Doch die bisher denkbaren Therapien sind auch aus Patientenperspektive nicht unproblematisch ­ und es gibt Alternativen.

Seit einigen Wochen erfährt die bereits seit drei Jahren in der Öffentlichkeit geführte Diskussion um Stammzellen wieder verstärktes öffentliches Interesse. Die Meldungen über die Herstellung von "Eizellen" aus embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) der Maus (Hübner et al. 2003), die Verschmelzung menschlicher ES-Zellen mit Mäusembryonen (Zitner 2002, Anonymus 2003) und weitere Entwicklungen im Bereich der Stammzellforschung (Byrne et al. 2003; Hengstschläger et al. 2003) haben erneut Fragen nach der Wünschbarkeit und der Notwendigkeit der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen aufgebracht. Dabei entsteht durch die Fülle an Publikationen, die uneinheitliche Begriffsverwendung und die oft ungenaue Darstellung der Experimente einige Verwirrung in der öffentlichen Wahrnehmung dieses komplexen biotechnologischen Bereichs. Dieser Artikel soll durch einige Begriffsbestimmungen und eine kritische Einordnung der aktuell debattierten Entwicklungen in den wissenschaftlichen Kontext zur Klärung des aktuellen Sachverhaltes sowie der Möglichkeiten und Risiken verschiedener Verwendungsarten für ES-Zellen beitragen. [Kasten 1: Die vier wichtigsten möglichen Einsatzbereiche für menschliche ES-Zellen]

Was sind Stammzellen?

Die allgemeine Frage, was eine Stammzelle ist, kann nicht ohne weiteres beantwortet werden. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Stammzellen und unterschiedlicher Konzepte darüber, was eine Stammzelle auszeichnet. Als Minimaldefinition könnte man sagen, dass eine Stammzelle allgemein zunächst durch folgende funktionale Eigenschaften bestimmt werden kann: hohe Vermehrungsrate, die Fähigkeit zur Selbsterneuerung und zur Produktion einer Vielzahl (bei embryonalen Stammzellen: aller) differenzierter Zellen eines Organismus. Verschiedene Stammzellen kommen in allen Entwicklungsphasen des Säugers vor (vom Embryo bis ins hohe Alter). Ihrer Herkunft gemäß unterscheidet man zunächst zwischen embryonalen und somatischen Stammzellen (von griechisch soma = Körper; häufig auch als 'adulte Stammzellen' bezeichnet).

Embryonale Stammzellen

Der Begriff "embryonale Stammzellen" bezeichnet ganz unterschiedliche Zelltypen im lebenden Organismus ebenso wie unter Kulturbedingungen. Die in den letzten 3 Jahren in der öffentlichen Debatte diskutierten embryonalen Stammzellen sind Zellen, die nur in vitro (im Labor) existieren und die aus Embryonen oder abgetriebenen Föten (5.-11. Entwicklungswoche) gewonnen werden. Man unterscheidet üblicherweise zwei verschiedene Typen: ES-Zellen (embryonic stem cells) und EG-Zellen (embryonic germ cells). (1) Menschliche ES-Zellen stellen vermutlich ein vielseitiges Ausgangmaterial für verschiedene Zelltypen dar. Ihr spezieller Vorteil wird in der unbegrenzten, relativ standardisierten Verfügbarkeit gesehen. Sie werden aus einem Embryo im Blastozystenstadium (Hohlkugel, die in der Embryonalentwicklung nach wenigen Tagen entsteht) gewonnen. Bei menschlichen Embryonen handelt es sich bislang in der Regel um Embryonen, die ursprünglich für die Herbeiführung einer Schwangerschaft mittels künstlicher Befruchtung (IVF) gezeugt wurden. Angedacht wird die Möglichkeit, sie aus Blastozysten zu gewinnen, die auf anderem Weg hergestellt werden, zum Beispiel durch Kerntransferverfahren (Klonen) oder über parthenogenetische Verfahren ("Jungfernzeugung", siehe unten). Bei allen Verfahren werden die Embryonen bei der Gewinnung der Stammzellen zerstört ­ darin liegt der Hauptgrund für die erregte Debatte um diese Forschungsrichtung. Menschliche EG-Zellen werden aus den Vorläufern der Keimzellen abgetriebener (also bereits toter) Föten in Kultur etabliert. Ihre Gewinnung ist in Deutschland legal (vgl. Richtlinien der Bundesärztekammer 1991) ­ ethisch jedoch nicht unproblematisch. Ihre Kultivierung scheint schwierig zu sein und nur wenige Labore arbeiten zur Zeit mit ihnen. Es kann jedoch sein, dass diese Zellen ein ähnliches Differenzierungspotential haben wie ES-Zellen.

Somatische Stammzellen

Im menschlichen Körper kennt man bislang über zwanzig verschiedene somatische Stammzellen aus unterschiedlichen Geweben, zum Beispiel aus dem Blut, der Leber, dem Gehirn oder der Haut. Während bei der befruchteten Eizelle, aber auch bei ES-Zellen, die Fähigkeit besteht, alle Zelltypen eines Organismus zu generieren, ging man bei somatischen Stammzellen bis vor kurzem davon aus, dass sie ausschließlich auf die Differenzierung zu den Zelltypen 'ihres' Gewebes festgelegt seien (zum Beispiel Blutstammzellen auf die Generierung der verschiedenen Zellen des Blutes). Nun wurde in verschiedenen Tierversuchen gezeigt, dass die Differenzierungskapazität der meisten (möglicherweise aller) somatischen Stammzellen erheblich höher ist. Vor allem Knochenmarkstammzellen scheinen besonders flexibel zu sein. Aber auch Nervenstammzellen oder Stammzellen aus dem Muskelgewebe konnten zur Differenzierung in eine Vielzahl von Zelltypen angeregt werden (zur Übersicht siehe Badura-Lotter 2002; Hüsing et al. 2003). In der Forschung wird derzeit verstärkt untersucht, welche Substanzen/Mechanismen zur "Reprogrammierung" der somatischen Stammzellen beitragen ­ und ihre Differenzierungsfähigkeit damit erhöhen.

Totipotent oder pluripotent?

Das Deutsche Embryonenschutzgesetz (ESchG) verbietet die fremdnützige Verwendung menschlicher Embryonen in weitreichender Form. Dabei wird der frühe Embryo über das Kriterium der "Totipotenz" definiert. Im Deutschen Embryonenschutzgesetz wird eine Zelle als totipotent bezeichnet, "die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen [...] zu einem Individuum zu entwickeln vermag" (ESchG § 8 Abs. 1, in: Keller et al. 1992). Im Bereich der ES-Zellforschung war diese stärkste Definition für Totipotenz bis zur Debatte über die Forschung an humanen ES-Zellen nicht dominant. Obwohl embryonale Stammzellen der Maus ausgezeichnet charakterisiert sind, ist die Bezeichnung ihrer Entwicklungspotenz (Toti- bzw. Pluripotenz) in der Fachliteratur nach wie vor uneinheitlich. Insgesamt lassen sich mindestens vier verschiedene Definitionen von Totipotenz unterscheiden, die häufig in Kombination auftauchen (+ Kasten 2: Vier verschiedene Definitionen von "Totipotenz"). Die Definition der Totipotenz nach dem EschG ist für ES-Zellen nicht eindeutig. Die Entwicklungspotenz humaner embryonaler Stammzellen ist noch ungeklärt. Es ist zwar bisher nicht gelungen, aus einer ES-Zelle allein ganze lebensfähige Embryonen herzustellen, doch ES-Zellen der Maus können sich zu vollständigen, lebensfähigen Individuen entwickeln, wenn sie mit embryonalen Nährzellen (Trophoblastzellen) zusammen kultiviert und dann in Mäuseweibchen eingesetzt werden (Nagy et al. 1993). Für humane ES-Zellen wurde die Fähigkeit zur Bildung solcher Nährzellen in vitro nachgewiesen (Xu et al. 2002). Es wäre also theoretisch denkbar, aus einer humanen ES-Zelle sowohl weitere undifferenzierte ES-Zellen als auch Trophoblastzellen und damit möglicherweise lebensfähige menschliche Embryonen zu erzeugen. Dieses reine Gedankenexperiment soll lediglich zeigen, dass die Definition von Totipotenz kein biologisches Faktum bezeichnet, an welches eindeutige moralische oder rechtliche Normierungen gebunden werden könnten ­ der 'biologische Blick' kann nicht ohne weiteres in einen moralischen Blick übersetzt werden. Beispielsweise ist bezüglich der juristischen Definition fraglich, was unter "erforderliche weitere Voraussetzungen" fallen würde und was nicht. Die Frage nach der Pluri- oder Totipotenz von menschlichen ES-Zellen lässt sich nicht beantworten. Auch das im Juli 2002 in Kraft getretene Stammzellgesetz beruht auf der Unterscheidung zwischen Totipotenz und Pluripotenz nach dem EschG. Die Herstellung von ES-Zellen aus (totipotenten) Embryonen bleibt in Deutschland verboten. Gleichzeitig erlaubt das Gesetz über Ausnahmeregelungen den Import der (als pluripotent angesehenen) ES-Zelllinien unter strengen Auflagen (der GID berichtete darüber). Im vereinten Europa gelten jedoch unterschiedliche Regelungen. Die EU-Kommission will auch die Forschung mit ES-Zellen fördern, die von Embryonen gewonnen werden, die nach dem 27. Juni 2002 erzeugt wurden. Deutsche Steuergelder würden diese dann mit unterstützen, obwohl sie hierzulande verboten ist (Ärzte Zeitung 2003; Regierung Online 2003). [Kasten 2: Vier verschiedene Definitionen von "Totipotenz"]

Eizellen aus der Petrischale?

Forscher der University of Pennsylvania publizierten im angesehenen Wissenschaftsmagazin "Science", dass sie aus Mäuse-Stammzellen Follikel-ähnliche Strukturen hergestellt und dann einen Eisprung in der Petrischale beobachtet hätten (Hübner et al. 2003). Zusätzlich beobachteten sie parthenogenetisch erzeugte Embryonen im Blastozystenstadium. Bei der Jungfernzeugung (Parthenogenese), die zum Beispiel bei Insekten natürlicherweise vorkommt, entwickelt sich eine unbefruchtete "Eizelle" nach Aktivierung weiter. Bei Affen und Mäusen ist es bereits gelungen, Stammzelllinien aus solchen künstlich erzeugten Blastozysten zu gewinnen (Cibelli 2002). Auch bei Menschen wurden bereits Versuche hierzu unternommen (Lin et al. 2003). Bisher deutet alles darauf hin, dass parthenogenetisch erzeugte Embryonen von Säugern nicht entwicklungsfähig sind. Daher schätzen einige Forscher die Erzeugung von ES-Zellen aus parthenogenetisch erzeugten Embryonen als ethisch weniger problematisch ein. Sie wären schließlich nicht totipotent (Westphal 2003). Ob Zellen solcher Embryonen für therapeutische Zwecke einsetzbar wären, beziehungsweise welche spezifischen Probleme sie eventuell bergen, ist nicht bekannt. Nach der Publikation von Karin Hübner und ihren Mitarbeitern überschlugen sich die Schlagzeilen. Der potenzielle Nutzen der Züchtung von Sperma und Eizellen zur Erfüllung des Kinderwunsches unfruchtbarer Paare wurde betont. Dabei konnten die Vorgänge bisher nur bei der Maus beobachtet werden, und die entstandenen Zellen sind bislang kaum charakterisiert. So ist bislang auch unklar, ob die Eizell-ähnlichen Gebilde (vermutlich handelt es sich um Vorläufer von Eizellen) sich nach einer Befruchtung tatsächlich zu normalen Mäusen entwickeln könnten. Es wurde spekuliert, diese Forschungsergebnisse würden die Grenze zwischen Totipotenz und Pluripotenz verwischen und die Ethiker vor völlig neue Voraussetzungen stellen. Wie oben dargelegt, ist diese Grenze jedoch prinzipiell nicht eindeutig. Dass die Potenz einer Zelle durch technische Manipulation bis hin zur Totipotenz veränderbar ist, wurde bereits durch das Klonen gezeigt. Darüber hinaus ist die Fähigkeit, Ei- und Samenzellen zu bilden, von ES-Zellen der Maus schon lange durch Experimente im lebenden Tier bekannt ­ sie konnte bislang in vitro nur noch nicht nachgeahmt werden. Die einzige neue ethisch relevante Entwicklung, die durch diese Experimente in den Blick gerückt wird, ist die Aussicht, zur Eizellgewinnung möglicherweise nicht mehr im jetzigen Umfang auf Frauen angewiesen zu sein. Bisher können Eizellen Frauen nur nach strapaziöser Hormonbehandlung und erheblichen Risiken entnommen werden. Eines der stärksten feministischen Argumente gegen die Embryonenforschung würde damit weitgehend entfallen. (2)

Mögliche Probleme beim Einsatz humaner ES-Zellen in der Therapie

Abgesehen von dem grundsätzlichen Problem, dass aufgrund mangelnder Grundlagenkenntnisse und fehlender allgemeiner und krankheitsspezifischer Konzeptionen zur Zelltherapie nicht klar ist, welcher Zelltyp für die jeweilige Therapie überhaupt geeignet sein könnte,(3) bestehen bei der Verwendung humaner ES-Zellen zur Gewinnung transplantierbarer Zellkulturen erhebliche Probleme und Risiken.

  • Kontamination der Zellen: Bei der Transplantation von in vitro kultivierten Zellen insbesondere bei Langzeitkulturen, wie den etablierten ES-Zelllinien, besteht immer die Gefahr einer Verunreinigung der Kulturen mit Krankheitserregern, wie Viren. Bei humanen ES/EG-Zellen ist das Problem besonders groß, da sie bisher in der Regel mit so genannten tierischen "feeder-Zellen" kultiviert werden, für die eine Infektionsgefahr durch endogene Viren des Tieres besteht. Hier müssten spezielle Sicherheitsstandards etabliert werden, bevor mit der Transplantation der Zellen in den Menschen begonnen wird. Die bisher entwickelten alternativen Medien ohne lebende tierische Zellen werden derzeit zurückhaltend bewertet.
  • Tumorbildung und unkontrolliertes Wachstum Embryonale Stammzellen bilden Tumore aus, wenn sie im undifferenzierten Zustand in einen bereits entwickelten Organismus transplantiert werden. Daher müssten Kulturen von Vorläuferzellen beziehungsweise ausdifferenzierten Zellen für klinische Zwecke in absoluter Reinheit hergestellt werden. Bislang wurde dies noch in keinem Ansatz erreicht. Eine tumorigene Entwicklung der Zellen nach der Transplantation kann auch in Zukunft kaum sicher ausgeschlossen werden. Ein zusätzliches Risiko für den Patienten besteht in den sowohl bei murinen als auch bei humanen ES-Zellen festgestellten genetischen Instabilitäten, die bei Langzeitkulturen zunehmen. Daher sollten die Zellen vor jeder Transplantation geprüft werden, was jedoch Aufwand und Kosten erhöhen würde. Auch bei somatischen Stammzellen ist eine Differenzierung in unerwünschte Zelltypen und eine eventuell bösartige Entartung nicht auszuschließen. Das Risiko wird jedoch als geringer eingeschätzt, insbesondere bei der Verwendung von autologen, also aus dem Patienten selbst entnommenen, Stammzellen aus dem Knochenmark. Diese körpereigenen Zellen besiedeln vermutlich auch unter natürlichen Bedingungen beziehungsweise im Krankheitsfall verschiedene Organe.
  • Differenzierung in geeignete Zelltypen Die gezielte Herstellung transplantierbarer Zellkulturen in einem ausreichenden Maß ist bei humanen ES-Zellen bislang nicht erreicht worden. Auch kann bislang erst nach der Transplantation in den lebenden Organismus gesagt werden, ob die transplantierten Zellen alle wesentlichen Kriterien des gewünschten Zelltyps aufweisen. Gerade hierzu liegen jedoch kaum fundierte Ergebnisse aus Tierversuchen vor.
  • Integration, Wachstum und Heilungseffekte: Prinzipiell ist eine Integration transplantierter Vorläuferzellen und ausdifferenzierter Zellen aus ES-Zellen möglich. Die Ergebnisse in verschiedenen Tier-Modellen für menschliche Krankheiten ergaben zum Teil kurzzeitige Verbesserungen einiger Symptome. Allerdings sind die Versuche in der Regel zu kurzfristig angelegt, um nachhaltige Heilungseffekte prüfen zu können. Zudem wurde selten untersucht, ob die transplantierten Zellen auch andere als die injizierten Organe besiedelten und wie sie sich dort gegebenenfalls verhielten. Dies wäre vor dem Beginn klinischer Studien unbedingt notwendig.
  • Strategien zur Überwindung immunologischer Reaktionen: Trotz noch bestehender Unsicherheiten über den immunologischen Status von Zellen, die aus ES-Zellen generiert werden, ist relativ unstrittig, dass die Transplantation der ausdifferenzierten Zellen eine immunologische Abwehrreaktion des Empfängers hervorrufen würde. Es werden verschiedene Möglichkeiten diskutiert, dieses Problem zu überwinden. Eine davon ist die bereits in der konventionellen Transplantation praktizierte Übertragung von Zellen und Geweben mit Oberflächenstrukturen, die denen des Empfängers möglichst ähnlich sind (HLA-Matching) ­ bei gleichzeitiger Immunsuppression mit zumeist schweren Folgewirkungen. Dafür wäre die Etablierung von ES-Zellbanken notwendig, die möglichst viele oder zumindest die häufigsten HLA-Typen umfassen. Dies setzt allerdings die Verwendung einer Vielzahl menschlicher Embryonen voraus, was ethisch umstritten, technisch aber vermutlich machbar ist.(4) Auch gentechnische Maßnahmen zur Überwindung der Immunabwehr des Empfängers werden momentan untersucht, wie die Entwicklung HLA-freier ES-Zellinien. Die Forschungen befinden sich jedoch noch in den Anfängen. Eine weitere, auch in der Öffentlichkeit viel diskutierte Option, die im Erfolgsfall alle immunologischen Schwierigkeiten beseitigen könnte, wäre die Herstellung von ES-Zellen aus Blastozysten, die durch vorherige Kerntransplantation mit dem Zellkerngenom des prospektiven Transplantatempfängers identisch wären (therapeutisches Klonen). Beim therapeutischen Klonen werden Embryonen durch den Transfer eines Zellkerns einer Zelle des Patienten in eine entkernte Eizelle nach der Dolly-Methode erzeugt. Sollte es eines Tages möglich sein, Eizellen künstlich zu erzeugen, wäre auch eine Hemmschwelle (der Eizellmangel) für das therapeutische Klonen abgeschafft. Dieser Akt würde dennoch bedeuten, dass potentiell lebensfähige Embryonen erzeugt und getötet würden ­ und zwar vermutlich sehr viele für jeden Patienten, bevor eine passende ES-Zelllinie etabliert wäre ­ ein immenser Aufwand, der nicht nur technische, logistische und ökonomische Probleme aufwerfen würde, sondern auch ethisch bedenklich wäre.

Fazit

Bei der verbreiteten Begeisterung für die "neuen Möglichkeiten", die sich aus der ES-Zellforschung ergeben könnten, wird leicht vergessen, dass ein Großteil der Visionen etliche ungelöste Probleme im "Schlepptau" führen. Zwar eröffnen humane ES-Zellen insbesondere in der Grundlagenforschung sowie der Pharmakologie und Toxikologie vermutlich ein besonderes Potential für neue Erkenntnisse. In der klinisch ausgerichteten Forschung zur Zell- und Gewebetransplantation sind für humane ES-Zellen jedoch gravierende Schwierigkeiten absehbar, deren Überwindung einen enormen wissenschaftlichen und technischen Aufwand darstellen wird. In diesen Bereichen lassen somatische Stammzellen weniger Komplikationen erwarten - abgesehen davon, dass für alle Ansätze zur Zellersatztherapie grundlegende Fragen in Bezug auf ihre Realisierbarkeit bestehen.

Fußnoten

  1. Ein dritter Typ ­ EC-Zellen (embryonic carcinoma cells) ­ wird aus Tumoren gewonnen. Er soll hier nicht weiter diskutiert werden, wenngleich er als Ersatzmodell für ES-Zellen in der Grundlagenforschung durchaus wichtig ist (s. etwas ausführlicher dazu Wobus 1997).
  2. Allerdings ist auch diese Perspektive nicht völlig neu, Vorläufer von Ei- und Samenzellen wurden auf verschiedene Weise bereits in Kultur hergestellt (z.B. aus Eierstöcken abgetriebener Föten aber auch Vorläufer von Spermien aus ES-Zellen der Maus; s. die informative Übersicht von Carina Dennis 2003).
  3. Vergleiche zu dieser Einschätzung z.B. Hüsing et al. 2003, Kapitel 5
  4. So wird am National Institute for Biological Standards and Control (NIBSC) in Großbritannien eine Stammzellbank eingerichtet, die auch ES-Zellen umfassen soll (siehe zu den Hintergründen und Aufgaben die homepage der Einrichtung http://www.nibsc.ac.uk/divisions/cbi/stemcell.html).

Literatur

  • Anonymus (AFP) (2003): ´Hu-mouse´ stem-cell breakthrough. The Sydney Morning Herald (smh.com.au), 24.6.2003. Zitiert nach www.stemcellresearchnews.de
  • Badura-Lotter (2000): Embryonale Stammzellen- naturwissenschaftlicher Sachstand und ethische Analyse. In: Engels, E./Badura-Lotter, G./Schicktanz, S. (Hrsg.): Neue Perspektiven der Transplantationsmedizin im interdisziplinären Dialog. Nomos, Baden-Baden 2000, S. 56-95
  • Badura-Lotter (2002): Adulte Stammzellen ­ die bessere Alternative? In: Oduncu, F., Schroth, U. und Vossenkuhl, W. (Hrsg.): Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen. Reihe: Medizin ­ Ethik ­ Recht, Bd. 1. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen, S. 78-99.
  • Bundesärztekammer (1991): Richtlinien zur Verwendung fetaler Zellen und fetaler Gewebe, Deutsches Ärzteblatt 88, Nr. 48, S. 2788-2791.
  • Byrne et al (2003): Nuclei of adult mammalian somatic cells are directly reprogrammed to oct-4 stem cells gene expression by amphibian oocytes. Current Biology, 13, 1206 - 1213.
  • Cibelli et al. (2002): Parthenogenetic stem cells in nonhuman primates. Science Feb 1; 295 (5556), S. 819
  • Cibelli et al. (2001): Somatic Cell Nuclear Transfer in Humans: Pronuclear and Early Embryonic Development; in: The Journal of Regenerative Medicine 2 S: 25 ­ 31
  • Dennis, C. (2003): Synthetic sex cells. Nature 424, 24.7.2003, S. 364-366. Hengstschläger et al. (2003): Oct-4-expressing cells in human amniotic fluid: a new source for stem cell research? Human Reproduction (18) Nr. 7, S. 1489-1493
  • Hübner et al. (2003): Derivation of Oocytes from mouse embryonic stem cells. Science 300, S. 1251-1256.
  • Hüsing et. al. (2003): Menschliche Stammzellen. Studie des Zentrums für Technologiefolgen-Abschätzung. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. TA 44/2003. www.ta-swiss.ch
  • Keller et al. (1992). Embryonenschutzgesetz. Stuttgart/Berlin/Köln, Kohlhammer Verlag. Lin et al. (2003): Multilineage Potential of Homozygous Stem Cells Derived from Metaphase II Oocytes. Stem Cells; 21:152-161
  • Nagy et al. (1993). Derivation of completely cell culture-derived mice from early-passage embryonic stem cells. Proceedings of the National Academy of Sciences 90: 8424-8428 Regierung Online (www.bundesregierung.de): Forschung mit embryonalen Stammzellen in der EU, 9.7.2003
  • Westphal (2003): "Virgin birth" method promises ethical stem cells. NewScientists.com. 28. April.
  • Xu, R. et al. (2002). BMP4 initiates human embryonic stem cell differentiation to trophoblast. Nature Biotechnology 20(12): 1261-4
  • Wobus (1997): Zellkulturtechniken und Zellmodelle, in: Handbuch der molekularen Medizin, hrsg. v. D. Ganten und K. Ruckpaul, Berlin/Heidelberg, Springer Verlag, S. 305-337
  • Zitner (2002): 'Humouse' tests patent of life forms. The Philadelphia Inquirer, 27.5.2002.

Weitere Literaturhinweise

  • GID-Schwerpunkt (2001): Der politische Embryo - Irgendwie ein Mensch? GID (17) Nr. 146, 2001
  • Riewenherm (2001): Der beforschte Embryo ­ Eine Chronik. GID (17) Nr. 146, S. 7-8, 2001
  • Internet-Hinweis: www.stemcellresearchnews.com
Erschienen in
GID-Ausgabe
159
vom August 2003
Seite 36 - 40

Dr. Gisela Badura-Lotter ist Biologin und Ethikerin. Sie arbeitet an der Universität Brest in Frankreich. Ihr Buch "Forschung an embryonalen Stammzellen. Zwischen biomedizinischer Ambition und ethischer Reflexion" ist 2005 beim Campus Verlag erschienen; 388 Seiten, ISBN 3-593- 37698-9.

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Lilian Schubert ist Doktorandin am Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften der Universität Tübingen.

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Die vier wichtigsten möglichen Einsatzbereiche für menschliche ES-Zellen (Beispiele)

a) Grundlagenforschung Erforschung der molekulargenetischen Grundlagen der Embryonalentwicklung und der embryonalen Genexpression b) Physiologische, pharmakologische und toxikologische Forschung Versuche zur embryotoxischen und pharmakologischen Wirkung von Substanzen. Könnte möglicherweise Tierversuche reduzieren c) Transplantationsmedizin

  • Zelltherapie mit Vorläuferzellen oder differenzierten Zellen
  • Züchtung und Transplantation einfacher und komplexer Gewebe

d) Gentherapie

  • somatische Gentherapie (Veränderung von Eigenschaften der Zellen in Kultur mit anschließender Transplantation).
  • Keimbahntherapie (genetische Veränderung von Embryonen in vitro mit dem Ziel, ein Kind zu erzeugen); weltweit verboten

Vier verschiedene Definitionen von "Totipotenz"

  1. Die Fähigkeit von Zellen, sich in alle drei embryonale Keimblätter, aus denen die Organe hervorgehen, zu differenzieren.
  2. Die Fähigkeit von Zellen, sich in alle Zelltypen eines Organismus zu differenzieren. (Sie wird in der öffentlichen Debatte auch häufig als Pluripotenz bezeichnet)
  3. Die Fähigkeit von Zellen, bei Injektion in fremde Blastozysten Ei- und Samenzellen zu bilden. Diese Definition stammt aus Experimenten zur sog. Gene-targeting Technologie, mit deren Hilfe gentechnisch veränderte Tiere erzeugt werden.
  4. Die Fähigkeit einer einzelnen Zelle, sich zu einem lebensfähigen Individuum zu entwickeln. Diese Definition liegt dem Embryonenschutzgesetz (EschG) zugrunde.